In unserer Darstellung geht es in erster Linie um einen Versuch, das Nibelungenlied im Sinne einer eminent ,politischen Dichtung` zu interpretieren. Diese Ansicht richtet sich namlich gegen die ga¨ngige Meinung, daß das Nibelungenlied eine typisch mittelalterliche ,Heldendichtung` sei. Da wir der Auffassung sind, daa es sich im Nibelungenlied im Grunde genommen um das Legitimationsproblem politischer Macht handelt, sollte die Plausibilitat dieser Auffassung durch die eingehende Analyse der Handlung u¨berpru¨ft und dabei die gegenwartsbezogene Lesbarkeit einer mittelalterlichen Dichtung rezeptions a¨sthetisch praktiziert werden. Von dieser Warte aus la¨ßt sich die Struktur des Nibelungenlieds im großen und ganzen als Untergangsprozeß der ,korrumpierten` Feudalmacht von Gunther und seiner Sippe darstellen und zwar in dem Sinne, daß die Legitimationskrise der politischen Macht urspru¨nglich von der verfa¨lschten Brautwerbung in Isenstein abzuleiten ist. Nach solcher Lesart ko¨nnen dann alle strukturellen Elemente motivischer wie auch stofflicher Herkunft zu der genannten Dimension in Beziehung gesetzt werden. Aus der zweimaligen Betrugshandlung Siegfrieds bei der Brautwerbung und in der Hochzeitsnacht ergeben rich konsequenterweise der auf der o¨ffentlichen Beleidigung wie auch der Gegenbeleidigung basierende Rangstreit zwischen den Ko¨niginnen und schließ1ich die ihren ermordeten Gatten rachende verhangnisvolle Vergeltungsaktion Kriemhilds. So gesehen ist es unvenneidlich, daß die wenn auch wiederhergestellte, aber nicht meter legitimierte Herrschaftsordnung ihre Legalita¨t einbu¨ßt. In diesem Zusammenhang kommt es in unseren Ausfu¨hrungen einerseits auf die Herauskristallisierung der semantischen Tiefenstruktur und undererseits auf die Konkretisierung eines rezeptionsa¨sthetischen Theorems ,Applikation` an, so daß der a¨sthetische ,Fremdgenuß im Selbstgenuß` durch die mehrmalige, differenzierte Lekture erst garantiert werden kann. So betrachtet ist die Gegenwa¨rtigkeit und Aktualita¨t des NLs nicht nur mit seinem Fiktionscharakter eng verbunden, sondern auch mit der Auffassung, daß das NL ungeachtet verschiedener ho¨fischer Stilisierungselemente in seiner verschlu¨sselten Intention den damaligen Sinn- und Wertorientierungen kritisch gegenu¨bersteht. Erst solche Sinngebung kann uns die Behauptung erlauben, daß das NL sich nicht als ,Heldendichtung im traditionellen Sinne, sondem eher als ,politische` Dichtung darstellt