In seiner Schrift "Auch eine Philosophie zur Bildung der Menschheit (1774)" sucht Herder die Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie zu entwickeln. Dabei bricht er polemisch mit dem Geschichtsoptimismus der Aufkla¨rungshistoriker jener Zeit. Fu¨r Herder ist die Geschichte kein einfacher, von seinem Ende her immer schon bestimmter Prozeß eines linearen Fortschritts, sondern eine organische Entwicklung. Um these geschichtliche Entwicklung anschaulich zu erkla¨ren, vergleicht er den Gang der Weltgeschichte mit den menschlichen Lebensaltern und bringt seine Auffassung zum Ausdruck, daß er nicht nur kontinuierlicher Fortgang, sondern auch in jedem Augenblick sich abschließende Vollendung ist. Man kann nicht Ju¨ngling werden, ohne Kind gewesen zu sein. Die Abfolge der Zeitalter gewinnt also ein Moment innerer Notwendigkeit. Aber kein Zeitalter ist nur Mittel zum Zweck, wie jedes Lebensalter sowohl Mittel zum Zweck weiterer Entwicklung als auch schon Zweck in sich selbst ist. An diesen Gedanken hat dann der Historismus des 19. Jahrhunderts anknu¨pfen ko¨nnen. Herder versteht ein Zeitalter in der Geschichte als lebendiges Ganzes. Jeder seiner Teile ist daher nicht verzichtbar. Das Einzelne in der Geschichte erha¨lt Bedeutung durch seine Funktion im Ganzen. In diesem Kontext gewinnen bei Herder die Begriffe des Vetstehens und Einfu¨hlens, die nun gegenu¨ber der geschichtlichen Vergangenheit gelten, einen Sinn. Die Einfu¨hlung in die fremden Kulturen und Zeitalter bildet nur eine Seite der Aneignung der Geschichte. Man kann die geschichtliche Vergangenheit gerade vom Standpunkt der eigenen Gegenwart aus befragen. Umgekehrt kann man die Gegenwart aus der Perspektive der Vergangenheit beurteilen. Der Weg aus der Gegenwart in die Vergangenheit ist wie der aus der Vergangenheit in die Gegenwart ein Teil des gleichen hermeneutischen Zirkels, der die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Bei Herder vollzieht sich historisches Verstehen weitgehend in a¨sthetischen Kategorien. MaBgeblich dafu¨r ist eine theologische Voraussetzung. Die scho¨pfungstheologisch begru¨ndetete Idee eines "Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem", die sich in der biblischen Genesis dokumentiert findet, bildet die Folie fu¨r alle Aussagen u¨ber Wesen und Entwicklungsgesetze der Weltgeschichte. Diese theologische Pra¨misse bleibt das regulierende Prinzip fu¨r Herders a¨sthetische Geschichtsanschauung. Weltgeschichte entfaltet ein Bildungspotential, welches keimhaft im Ursprung enthalten ist. Sie erscheint in a¨sthetisch-genetischer Sicht als eine permanente Metamorphose der Kra¨fte des Ursprungs, die als solche nie verloren gehen ko¨nnen.