Die Bildung in den "Wilhelm Meisters Lehrjahren" wurden verschieden interpretiert. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, mit Begriffshilfe der Sozialpsychologie, vor allem auf der These von Erikson gestu¨tzt, Meisters Bildung letztlich als Identita¨tsbildung des Ichs zu deuten. Das Gefu¨hl der Ich-Identita¨t ist gebunden an die Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuita¨t in der Zeit und an die Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuita¨t erkennen. Das Gelingen der Identita¨tsbildung ha¨ngt einerseits von der Art der Bewa¨ltigung fru¨herer psychosozialer Krisen ab, andererseits von den gesellschaftlichen Mo¨glichkeiten und Grenzen. Erza¨hlt wird in den Lehrjahren u¨ber die Gegensa¨tzlichkeit zwischen bu¨rgerlichem Selbsbewußtsein und dessen sozialer Einschra¨nkung, d. h. die strikte Trennung zwischen individuellem und o¨ffentlichem Dasein eines selbstbewußten jungen Menschen. Das Theater bedeutet fu¨r Meister die Welt schlechthin, und Meister sucht beim Theater alles, was ihm in der realen Welt verwehrt bleibt. Es schla¨gt jedoch fehl, vor allem weil ihm das Theater seiner angeborenen Natur gema¨ß nicht paßt. Goethe sieht also das Theater nur als eine U¨bergangsstation und nicht als Endstation wie beim "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Meister u¨berwindet die fi¨eberhafte Theatromanie und kommt zu sich selbst. Damit gelingt es ihm, die realistische Weltanschauung zu gewinnen, und erreicht letztlich die Ich-Identita¨t. Goethe versteht Bildung nicht in einem aufkla¨rerischen Sinne als Prozeß vernunftbegru¨ndeter Reflexion, sondern in organologisehem Konzept als eine organische Entfaltung menschlicher Natur. So entwickelt Meister vom Theater, das ihm fremd ist, zu der ihm angeborenenen Ta¨tigkeit. Hinzu kommt fu¨r Goethe neuhumanistische Vorstellung des Romankonzepts: Die Gesellschaftlichkeit spielt dabei eine Rolle als unabdingbare Voraussetzung der gelingenden Ich-Identita¨tsbildung. In diesem Zusammenhang gewa¨hrt die Turmgesellschaft dem Romanhelden immer wieder eine existenzsichernde familia¨re Umgebung. Die soziale Wirklichkeit scheint fu¨r ihn gemacht zu sein. In diesem psychologischen Rahmen meistert er seine subjektiven Erlebnisse und erprobt ralita¨tsnahe alternative Daseinsmo¨glichkeit. Damit ist Meister eine glu¨ckliche Identita¨tsbildung von Anfang an gegeben.