Literaturgeschichte ist eine Art Kollektivgedachtnis, in dem vergangene Traditions- bestande aufbewahrt, in temporale Sequenzen angeordnet und so gelegentlichem Wieder- erinnern verfugbar gehalten werden. Der Begriff Literaturgeschichte ist ebenso wie der der Geschichte doppeldeutig: Er bezeichnet einen bestimmten Objektbereich, zugleich aber auch dessen Aneignung und Darstellung. Das weite Feld, das der Blick auf die histori- sche Entwicklung der Literaturgeschichtsschreibung auftut, ist bezeichnet nicht nur durch eine Mannigfaltigkeit in den methodisch-theoretischen Pramissen, sondern auch durch verschiedene Funktionsweisen, in denen sich die Literaturgeschichte jeweils zum gesell- schaftlichen, politischen und ideologischen Hintergrund verhalt. Der gegenwartige Disskusionsstand zur Literaturgeschichtsschreibung laßt sich unter mehreren Aspekten folgendermaßen charakterisieren: Die Erweiterung des Literaturbegriffs, die Pluralisierung des Literaturkanons, der Paradigmawechsel vom Entwicklungszusammenhang zum Sinn- zusammenhang, das Prinzip der Fragmentierung, Diversitat und Dispersion, die kritische Reflexion der Epochengliederung. In bezug auf die Gattungen ist fur die Literturgeschichtsschreibung die Frage nach moglichen allegemeinen Gesetzmaßigkeiten der Gattungsentwicklung besonders wichtig. Diese Frage verweist auf das Problem von Geschichte und Evolution uberhaupt und spielt sowohl unter soziokulturellen als auch unter wissenschaftgeschichtlichen Aspekten derzeit eine wichtige Rolle.