Newton behauptet, im weißen farblosen Licht, besonders im Sonnenlicht, seien mehrere verschiedenfarbige Lichter enthalten, die erst gebundelt das weiße Licht hervorbringen. Goethe hingegen meint, dass die Farbe zugleich von dem Licht und von dem, was sich ihm entgegenstellt, hervorgebracht wird. Er sieht auf der einen Seite das Licht und das Helle, auf der anderen Seite die Finsternis und das Dunkle. Dazwischen gibt es die Trube. Aus diesen Gegensatzen entwickeln sich die Farben. Die Regeln und Gesetze, die Farben entstehen lassen, offenbaren sich nicht durch Worte und Hypthese dem Verstand, sondern durch Phanomene dem Anschauen. Diese Phanomene nennt Goethe Urphanomene. Kurz gesagt, betrachtet Newton Farben als Objekte, die mit dem Betrachter nichts zu tun haben. Man braucht also nur exaktere Meßinstrumente, um die Farben genauer zu analysieren. Damit geraten Farbphanomene immer tiefer in eine abstrakte, gefuhllose und unnaturliche Welt, wo nur mehr instrumentale Vernunft vorherrscht. Die zerstorerische Eigenschaft der modernen industriellen Zivilisation hat hier ihren Ursprung. Goethe warnt davor, hinter und uber den Urphanomenen noch Weiteres aufzusuchen, weil es da nur unmenschliche, fremde Erscheinungen geben kann. Das heißt: man darf beim Betrachten der Farben seine Sinne nie außer Acht lassen, weil die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Teil und Ganzem nur durch menschliche Sinne vermittelt werden. So besteht Goethes Naturerkenntnis, die man im heutigen Kontext eine okologische Anschauung nennen konnte, aus der inneren Verbindung zwischen Mensch und Natur. Und eben darum bewerten moderne Physiker wie Heisenberg oder Weizsacker Goethes 『Farbenlehre』 neu. Goethes 『Farbenlehre』 kann somit als ein zivilisationskritischer Text gelesen werden.