Die vorliegende Untersuchung stellt den zweiten Teil meiner Werkanalyse dar, deren erster Teil unter der Uberschrift >Lessings Minna von Barnhelm (I): Tellheims Erkenntnisprozeß< in der Zeitschrift der Koreanischen Gesellschaft fur Germanistik (Dogilmunhag 47 (1991) S. 203-244) veroffentlicht wurde. Das Lustspiel ist in der Tat, wie der Untertitel heißt, ein Spiel um "das Soldatengluck" Tellheims, der sich aber erst von seinem Soldatenturn, also von seiner starren, von außen bestimmten Ehrauffassung und seinem Dienstverhaltnis zum Konig, losen muß, um dann sein Liebesgluck verwirklichen zu konnen. Der Major macht einen stufenweise fortschreitenden Erkenntnisprozeß durch, dessen dritter und wesentlicher Teil von Minna gleichsam als ein Aufklarungsversuch gesteuert wird. Die Hauptaufgabe meiner Arbeit besteht darin, diesen Prozeß der Aufklarung Tellheims uber sich selbst, die sich In seiner Losung vom Ehrbegriff manifestiert, als Hauptteil der Dramenhandlung zu bestimmen und auf der Grundlage dieser Analyse dann die alte Streitfrage aufzugreifen, ob Tellheim durch Minnas "Intrige" von seiner Fixierung auf den Ehrbegriff geheilt werde oder ob er allein dank der Rehabilitation durch den Konig heiraten konne. Anschließend wird eine Erklarung gesucht, welche soziale und literaturgeschichtliche Bedeutung seiner inneren Umwandlung beizumessen sei. 1) Es ist von einer einfachen Feststellung auszugehen, daß Minna mit resolutem Siegeswillen den Major aufsucht, "ihn seinem Konig wegzukapern" und daß sie bei aller Schwierigkeit am Ende ihr Ziel doch erreicht. 2) Die Aufklarung Tellheims findet im Rahmen der Minna/Tellheim-Handlung, die ihrerseits den Hauptteil der Gesamthandlung bildet und hauptsachlich aus drei Akten, dem 2., 4. und 5. Akt besteht. Das Zusammentreffen der Protagonisten findet dreimal statt, je einmal in jedem der drei Akte. Die Handlung laßt sich wiederum in zwei Vorgange gliedern, die aufeinanderfolgend im Kontrast zueinander stehen: die Enthullung der Vorgeschichte und die sogenannte "Ringintrige" mit dem darauf folgenden Komodienschluß. 3) Im ersten Vorgang (II/9, IV/6) wird der Konflikt eingefuhrt und fortschreitend gesteigert. Minna findet den Major in emem verzweifelten Zustand vor. Er ist ehrlos und verarmt. Sie erinnert ihn an das Verlobnis, aber der vermeintlich ehrlose ist gegen die Heirat, um Minna Schande zu ersparen. Mit der Enthullung der Vorgeschichte stellt sich jedoch heraus, daß die Ehre fur ihn weder "Stolz" noch "Gespenst" ist, sondern ein objektiv verbindlicher Verhaltenskodex (P. Michelsen), der seine gesellschaftliche Existenz bedingt. Als ein ehrlicher und verantwortungsbewußter Mann und ``Hausvater`` kann er der Liebe nicht folgen, ohne sein inneres Ehrgefuhl zu verletzen. Andererseits wird auch immer deutlicher, daß er sich innerlich langst von der außenbestimmten (Soldaten)ehre und damit auch vom Konig getrennt hat. Wenn er nicht wegen der so schimpflichen Bestechungsverdachtigungen verabschnedet worden ware, hatte er selber den Abschied gefordert und ware ohne weiteres in die Arme seiner Braut zuruckgekehrt. 4) Der zweite Teil der Aufklarung, das von Minna eingefuhrte "Spiel im Spiel" (IV/6, V/1-12), verlauft unter einer vorgetauschten Konstellation. Da der Major das Prinzip der Ehre nicht aufgibt, gibt sich Minna gleichchfalls entehrt, um die "Gleichheit" als "das feste Band der Liebe" kunstlich herzustellen und/aber um dann die Unhaltbarkeit dieser rein formalen Ethik nachzuweisen. Angesichts ihres vermeintlichen Unglucks fuhlt sich Tellheim willig und stark, alles fur sie zu unternehmen. Mitleid, bei Lessing die Signatur des besten Menschen, legt sein Herz frei und laßt die Stimme des Herzens sprechen. Er will um sie die ganze Welt vergessen, sein weiteres Leben mit ihr in einem anderen Land verbringen und sogar nichts mehr vom Dienst der "Großen" wissen. Gezeigt wird in diesem Spiel Minnas vor allem, wie die Entscheidung Tellheims, sich von Preußen und seinem Konig loszusagen, stufenweise aufgebaut und gefestigt wird. Seine Absage an die "Dienste der Großen", die ihre Diener mit "Erniedrigung" belohnen, kulminiert in dem Augenblick, als er das konigliche Handschreiben zerreißen will. 5) Zur Debatte steht offenbar nicht, ob oder wie Tellheim von seinem tragikomischen Ehre-Denken befreit wird, sondern vielmehr, was er unternimmt und unternehmen muß, um die von den "Großen" sozusagen oktroyierte Tragodie zu vermeiden. Der Konflikt zwischen den Anspruchen der Ehre und solchen der Liebe ist dadurch gekennzeichnet, daß er weder von den Protagonisten verursacht wurde noch durch sie gelost werden kann. Gerade deshalb muß sich der Major von der fremdbestimmten Ehre und von deren Verwalter, Preußen, lossagen, wenn "der Trieb der Selbsterhaltung erwacht", wenn er "etwas Kostbares zu erhalten hat". Ganz abwegig ist aus dieser Sicht die Behauptung, daß der Aufklarungsdiskurs zu keinem guten Ende fuhren konne und daß das gute Ende nur durch das konigliche Handschreiben erfolge. Der Kontrast von Konflikt und Konfliktlosung, die "Diskrepanz zwischen Spielhandlung, die auf die Losung des Konflikts abzielt, und der tatsachlich stattfindenden Losung, die mit dieser Spielhandlung in keinerlei Zusammenhang steht" (Steinmetz), sollte auch nicht ubertrieben werden, zumal die Komik dieser Diskrepanz nicht im Mittelpunkt der Komodienhandlung steht. Lessing demonstriert, wie die Figuren unter sich verandernden labilen Umstanden agieren und reagieren, wie sie einen Erkenntinis- und Aufklarungsprozeß durchmachen und hierdurch eine zwar indirekte, aber doch verdiente Losung herbeifuhren. Aus dieser Sicht ist das Lustspiel eine bewußt "vermiedene Tragodie" oder eher eine abgelehnte Tragodie. Dieser "heitere Abschied" war allerdings verfruht: Im Hinblick auf die spateren literarischen Gestaltungen des Ehrbegriffs erscheint die Absage als eine Vorwegnahme, die nicht einmal im Zeitalter des Wilhelminismus, dessen Herrscherhaus sich als Erben des Friedrich des Großen verstand, realisiert sein sollte.