Sein Leben lang lasst Goethes Interesse an Ubersetzungen auf theoretischer sowie praktischer Ebene nicht nach. Wenn auch er in Notizen und Abhandlungen zu besserem Verstandnis des west-ostlichen Divans den ``dritten Zeitraum``, "wo man die Ubersetzung dem Original identisch machen mochte", fur den hochsten und letzten halt, sind seine Ubersetzungen im strengen Sinne nicht als texttreu zu bezeichnen.In seiner Ubersetzungsarbeiten weicht Goethe von bestimmten Thesen oder vom theoretischem Rahmen ab und wendet oft seine eigenen Normen an: Er setzt viele Stellen der Urtexte mit seiner schriftstellerischen Kreativitat sowie mit der sprachlichen Sublimitat um und dadurch zeigen sich seine Ubersetzungen oft viel poetischer als die Originaltexte. Das besagt, dass er die Ubersetzung nicht aus Perspektiven eines Sprachwissenschaftlers bzw. eines professionellen Ubersetzers, sondern eines aktiven Rezipients, der auf der kosmopolitischen Basis die Andersheit der fremden Kulturen mit Respekt und intersubjektiven Einstellungen aufnimmt. Die Ubersetzungen, die Goethe selber praktiziert hatte, konnen in zwei Gruppen klassifiziert werden: zum einen ubersetzt er nur Teile der Urtexte und benutzt diese in seinen eigenen Texten, und zum anderen ubersetzt er Urtexte vollstandig. Zur ersten gehort die Ubersetzung aus Ossian/Macphersons Texten in seinem Roman Die Leiden des jungen Werther, und zur zweiten die Ubertragung von Denis Diderots Le Neveu de Rameau. Was Denis Diderots Le Neveu de Rameau angeht, markiert Goethe die erste Stelle der langen Ubersetzungs-und Rezeptionsgeschichte dieses Werks nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Goethe als erster Ubersetzer dieses Texts beharrt aber auf der Harmonie der einzelnen Teile sowie dem Prinzip der Euphonie. Dementsprechend setzt er die sogenannte ``naturalistische`` Tendenz Diderots wiebeispielsweise allzu grobe und garstige Ausdrucke nicht originaltreu um. Stattdessen bestrebt er seinen klassischen Stilprinzipien folgend die sprachliche, gedankliche Abrundung. In unsicheren sowie zweifelhaften Fallen folgt er dem Prinzip der ``Dezenz``. Viele Ausdrucke Diderots, die mal satirisch, mal grob vorkommen, sind daher abstrakt und anstandig verwandelt.