Die vorliegende Arbeit behandelt E.T.A. Hoffmanns spate Erzahlung Des Vetters Eckfenster (1822). Dieses Werk war schon einmal Gegenstand meiner Forschungsarbeit. Damals lag der Schwerpunkt meiner Untersuchungen auf der Krise der Autorschaft und auf dem Lernprozess der Wirklichkeitswahrnehmung (‘Seh-Schule’) in dieser Novelle. Die vorliegende Abhandlung ist als Fortsetzung dieser Arbeit gedacht und konzipiert. Dabei geht es hier nun um die konkreten Beispiele der Wahrnehmungsexperimente, die der altere ‘Vetter’, von seinem Eckfenster aus und durch das Fernglas, fur seinen jungeren Vetter macht, der in dieser “Dialogerzahlung” (H. Steinecke) als ‘Ich’ auftritt. Von den zahlreichen Personen auf dem Markt nehmen die beiden Vettern funf Figuren genauer ins Visier, namlich ein lesendes Blumenmadchen, einen alten deutschen Zeichenmeister/einen franzosischen Pastetenbacker, einen erblindeten Landwehrmann, einen jungen Kohler und einen “schismatischen Bauerjungen”. Dabei verraten diese Figuren als Gegenstande der Wahrnehmungsexperimente den Zustand und die innere Beschaffenheit des Haupthelden ‘Vetter’. Aber daruber hinaus macht die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden und wie uber sie erzahlt wird, d.h. wie sie die durch den Blick und das Wort der beiden Vettern erfundenen Lebenslaufe geschenkt bekommen, die Modernitat dieser Novelle aus. G. Neumann fasst das Gesprach am Fenster der beiden Vettern unter dem Begriff ‘die Mimesis des Unahnlichen’ zusammen. “Die Konstellation von Sehen und Erzahlen setzt das Drama des Reprasentationsparadoxes in Szene; ja sie ist dieses Paradox und damit die Urszene jener Mimesis des Unahnlichen, die die Moderne mehr und mehr zu pragen beginnt.”(GN 237) Und mit dieser Erzahltechnik der “atemberaubenden Modernitat” in Des Vetters Eckfenster, der “die neue Form poetischer Darstellung entspringt”, nimmt E.T.A. Hoffmann in der europaischen Mimesis-Geschichte eine Schlusselstellung ein. Es ist außerdem hervorzuheben, dass der spate E.T.A. Hoffmann trotz seines Hangs zum Realismus seinen beiden romantischen dichterischen Prinzipien, namlich dem ‘Callot-Prinzip’ und dem ‘Serapionsprinzip’, treu bleibt. Man kann G. Oesterle nur recht geben, wenn er hier von Stilpluralismus und Multiperspektivismus spricht.