Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage, welche Bedeutung das Dasein Mignons, vor allem ihr Tod, fur Goethes Roman ?Wilhelm Meisters Lehrjahre“ hat. Beachtenswert ist dabei vor allem zweierlei, namlich die Affinitat zwischen Wilhelm und Mignon und die entfremdende Atmosphare nach Mignons Tod im 8. Buch. Die Affinitat zwischen Wilhelm und Mignon beruht auf der Androgynitat, die charakteristisch nicht nur fur Mignon, sondern auch fur Wilhelm ist. Dass auch er dieses Merkmal teilt, kommt in seinem Interesse fur androgyne Frauen symbolisch zum Ausdruck. Diese Vorliebe wiederum verweist auf seine unterschwellige Angst vor der Geschlechterordnung, die von ihm eine mannliche Identitat verlangt und die Ehe als Lebensmodell impliziert. Die Affinitat zwischen den beiden kommt zu Ende, sobald die Ehe Wilhelms in den Vordergrund ruckt. Die Art und Weise, wie der Tod Mignons im 8. Buch behandelt wird, wirkt befremdend: Entsprechend dem Motto ?Gedenke zu leben“ im ?Saal der Vergangenheit“, herrscht in der Gesellschaft weniger Trauer angesichts von Mignons Tod, als vielmehr Freude uber die kommende Ehe Wilhelms. Mignons Tod scheint vergessen, wahrend alle sich mit der Frage beschaftigen, wer am besten wen heiratet. Auch der Tod des Harfners mit seiner reinen, aber inzestosen Liebe zu Sperata steht im Schatten der baldigen Ehe zwischen Wilhelms und Natalie. Unter naturlichen Gesichtspunkten existiert die Liebe des Harfners, unter gesellschaftlich-zivilisatorischem nicht. Mit dem Tod Mignons verschwindet das Familiendreieck von Augustin (dem Harfner), Sperata und Mignon und wird ersetzt von der Konstellation Wilhelm, Natalie und Felix. Mignons Tod ist ein Zeichen dafur, dass das Andere in der zivilisatorischen Ordnung keinen Ort hat und deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil die Genderordnung ihren Machtanspruch als dominanter Diskurs durchsetzt.