Das Wort “Text” stammt etymologisch von Textil. In Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kann man oft Stellen finden, wo der Faden des Schicksals erwahnt und ein Text mit einem Gewebe verglichen wird. Dabei wird Kleidung nicht bloß als Metapher fur einen Text oder ein menschliches Schicksal verwendet. Vielmehr ubt Kleidung im wortlichen Sinne eine fur die Romanhandlung konstitutive Funktion aus und symbolisiert auch die Welt, der die Romanfiguren angehoren. Die Kleidungen der Figuren, die ihre zugehorigen Welten symbolisch reprasentieren, nehmen einen großen Einfluss auf den Augenmenschen Wilhelm. Die Hauptfigur Wilhelm, die in der Kindheit vom Marionettentheater fasziniert war, hat Interesse an der Herstellung des Buhnenkostums. Das schone Buhnenkostum und der Schein der Theaterwelt ziehen sie magisch an. Auch die kostbare, prachtige Kleidung des Adels wirkt sich auf ihn aus, so dass er von der schon gekleideten Grafin in den Bann gezogen wird. Die Theater- und Adelswelt stehen im Gegensatz zur burgerlichen Welt, in der der schone Schein der Kleidung fehlt. Allerdings entzieht sich Wilhelm der Illusion der beiden Welten, weil er sich allmahlich der Diskrepanz zwischen dem schonen Schein und dem eigentlichen Wesen bewusst wird. Beispielsweise bemerkt Wilhelm in der Wohnung von Marianne, wie ihre Kleidung chaotisch auf dem Boden herumliegt. Dieser Anblick zerstort den von der Buhnenwelt hervorgerufenen schonen Schein. Spater erfahrt er auch durch den Zettel in Mariannes Schal, dass sie einen Geliebten hat, und verlasst sie. Die Kleidung wirkt auch auf die sexuelle Neigung Wilhelms. Die Figur Clorinde, die als Heidin und zugleich als mannlich gekleidete Kampferin auftritt, faszniert den kleinen Wilhelm. Ihre Erscheinung pragt seinen Geschmack in Bezug auf Frauen nachhaltig. Er verliebt sich in Marianne im Soldatenkostum und wird auf das knabenhaft gekleidete Madchen Mignon aufmerksam. Therese, als Jager verkleidet, und Natalie, in der ersten Begegnung als amazonenhafte Frau wahrgenommen, tragen auch mannlich kodierte Kleidung. Eine solche Kleidung verleiht den weiblichen Figuren eine naturliche Erscheinung, die Wilhelm in den Bann zieht. Mit Marianne und Therese, die Wilhelm in verkleideter Erscheinung bezaubern, kann sich Wilhelm am Ende nicht vereinigen. Die Verkleidung als kunstliche und scheinhafte Form kann nicht zur naturgegebenen Vereinigung fuhren, die am Romanende durch die gegenseitige Neigung und die seelische Verwandtschaft zwischen Wilhelm und Natalie zustandekommt.