Goethe benotigte 20 Jahre fur die Fertigstellung von Wilhelm Meisters Lehrjahre. Dieser Zeitraum, in dem Goethe das Buch verfasst hat, stellt gleichzeitig eine Anfangsphase des modernen, burgerlichen und kapitalistischen Zeitalters dar. Goethe konnte die neuen Werte der Moderne, die unaufhaltsam in seine Welt eindrangen, weder vorbehaltlos akzeptieren noch vollig verneinen. Stattdessen setzte er sich mit seiner Zeit auseinander, indem er in seinem Roman die alte und neue Welt gleichzeitig reflektierte. Wilhelm vertritt am Anfang die alte Welt der Poesie und des Theaters, aber landet am Ende in der Turmgesellschaft, die die Werte der Moderne, d.h. der Vernunft und Rationalitat reprasentiert. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass er in die neue Welt vollig integriert ist oder sich die Idee der Moderne als die seinige angeeignet hat. Er halt bis zum Ende des Romans eine kritische Distanz zur Turmgesellschaft. Als Gegensatze zur Turmgesellschaft laßt Goethe Mignon und den Harfner auftreten, die die Welt des Mythos und der Natur verkorpern. Allerdings konnten beide ihre Werte nicht gegen die neuen verteidigen, sondern gehen an ihnen zu, weil sie so nicht in der neuen Welt lebensfahig sind. Ihre ubertriebene Subjektivitat und extreme Lebensweise kann keinesfalls als eine Alternative gepriesen werden. Dass Goethe die beiden Parteien -die Turmgesellschaft einerseits und Mignon und den Harfner andererseits- als Polaritat kritisch darstellt, hangt damit zusammen, dass er auf eine andere, alternative Welt zielt, die durch eine Aufhebung der Polaritaten entsteht. Das spiegelt sich in seinem Lebens- und Literaturprinzip - dem Prinzip von Polaritat und Steigerung - wider; “Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und vereinigen, ..... im hoheren Sinne ..., indem das Getrennte sich zuerst steigert und durch die Verbindung der gesteigerten Seiten ein Drittes, Neues, Hoheres, Unerwartes hervorbringt.” Das Dritte und Hohere in dem Roman stellt Natalie dar, die die gegensatzlichen Werte in sich vereinigt. Sie gehort zur Turmgesellschaft, aber halt immer Distanz dazu und wahrt die Reinheit der Natur. So wird sie von ihrem Burder als wirklich schone Seele bezeichnet. In ihr stehen Geist und Material, Individiuum und Gesellschaft, Gefuhl und Vernunft, Wollen und Pflicht in Harmonie. Es ist ihr gelungen, was Wilhelm vergebens versuchte, namlich die Gegensatze von Pflicht und Neigung, Sollen und Wollen zu uberwinden und eine Harmonie zwischen dem Ich und der Welt zu erreichen. In diesem Sinne ist Natalie sowohl “die mogliche Zielgestalt des Romans” als auch das hochste Bild der Menschheit. Durch die Gestaltung der idealen Figur Natalie wird zu den beiden Polaritaten die Alternative, eine Koexistenz mit dem Fremden und Anderen zu verwirklichen und eine neue Identitat durch die Vereinigung der Polaritaten zu bilden, aufgezeigt. In diesem Sinne hat der Roman auch eine aktuelle Bedeutung fur die heutige multikulturelle und multireligiose Gesellschaft.