Dieser Beitrag zielt darauf ab, den in den Wilhelm Meister-Romanen zu beobachtenden Zusammenhang zwischen dem Wandel der gesellschaftlichen Struktur und der Semantik auf Grundlage der Systemtheorie von Niklas Luhmann zu untersuchen. Hierfur wird zunachst der theoretische Rahmen dargelegt; Die Gesellschaftsstruktur ist eine Bedingung, in der sich kommunikative Elemente selektiv miteinander verbinden, um die weiteren Kommunikationen zu operieren. Doch diese Struktur andert sich im Lauf der Geschichte. So differenziert sie sich von standisch auf funktional hin. Parallel zur Evolution der Gesellschaftsstruktur verandert sich auch die soziale Semantik, die als Begriffs- Themen- und Ideenvorrat verstanden wird. Der Argumentationsansatz dieses Artikels geht von einer Ubergangsphase aus, in der die beiden primaren Differenzierungsformen, namlich stratifikatorisch und funktional differenzierte Formen ineinander greifen. Dabei sind die Romanfiguren bewusst oder unbewusst diesem sozialen Umbau und den darausfolgenden Normenkonflikten ausgesetzt. Zur Vertiefung der Romananalyse behandelt die Arbeit zwei in den Romanen dargestellte Duell-Geschichten, die zeigen, dass die Semantik der Ehre als fundamentales Grundkonzept fur die hierarchisierte Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert und die Gesellschaftsstruktur nicht mehr von aristokratischem Vorrecht abhangig ist, sondern sie will eher eigenen spezifischen Bereich, in dem sie je nach Funktion uber eigene Kommunikation verfugt, stabilisieren. Dementsprechend fungieren die Duelle nicht mehr als eine Verteidigung der Ehre, sondern sie stellen vielmehr eine unrechtliche Tat dar. Lothario, die Zentralgestalt der reformatorischen Adelsgruppe in den Lehrjahren hat beispielsweise ein großes wirtschaftliches Reformprojekt, dadurch er das Abschaffen der Steuerfreiheit mit Blick auf die Legitimation der eigenen Eigentumsverfugung durchfuhren will. Auf der anderen Seite wird er in ein Duell involviert und verletzt. Wie Lothario befinden sich auch andere Romanfiguren, die Teil dieser neuen Ubergangsgesellschaft sind, in der ambivalenten Lage, sich gleichzeitig mit alten und neuen Begriffen, Ideen und Vorstellungen auseinandersetzen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten bewaltigen zu mussen. Mit Hilfe von Luhmanns Theorie und der Betrachtung von Goethes Wilhelm Meister-Romanen kommt der vorliegende Beitrag zum Ergebnis, dass der soziale Umbau hin zu voneinander unabhangigen Ausdifferenzierungen ein irreversibles Phanomen ist und die semantische Evolution in den Romanen auf die Veranderung der individuellen Lebenshaltung unvermeidbar einwirkt.