Fausts Charakter als ein Mensch, der immer strebend sich bemuht“ (V.11936) scheint nicht passend zum ersten Teil der Tragodie. Er zogert, kampft mit sich selbst und flieht sogar, wenn es um Liebe und Sexualitat geht. In der vorliegenden Arbeit geht es um Fausts Erotik in Bezug auf Gretchentragodie, Walpurgisnacht und Helenatragodie. Fausts Begierde, die unter der Persona des hohen Wissenschaftlers im Studierzimmer verdrangt worden ist, taucht zunehmend auf und gerat in Konflikt mit seiner Identitat. Auch in der Beziehung mit Gretchen schwankt Faust immer wieder zwischen Liebe und Schuldgefuhl. Die Walpurgisnacht ist der Ort, wo er sich ohne Ichspaltung seiner Sexualitat widmen kann. Fausts Problematik liegt darin, dass er nicht weiß, wie man Sexualitat und Liebe integriert. So bleibt er "ubersinnlicher sinnlicher Freier“, wie Mephisto hohnt. Die Liebe zwischen Faust und Helena zeigt neuzeitlichen Charakter. Es gibt keine Kluft zwischen Sexualitat und Liebe. Die arkadische Hohle sichert das idyllische Leben der beiden vor der außeren Realitat. So entsteht, unter Einbeziehung Euphorions, ein bukolisches Familien-Dreieck. Diese Liebe ist vergleichbar mit der "amour passion“ im Sinne Luhmans, die aus der individuellen Liebe, der Intergration der Sexualitat in die Liebe und der auf Monogamie beruhenden Ehe besteht. Der Helena-Akt stellt aber keine realen Ereignisse dar, sondern Mephisto inszeniert diesen Akt wie ein Spiel im Spiel. Dieses Spiel ist sozusagen ein Simulacrum der Arkadien-Utopie der Liebe. Goethe konstruiert das, indem er Elementen aus dem antiken Helena-Mythos selektiert und sie wiederum mit Elementen des mittelalterlichen Kreuzzugs, des neuzeitlichen Arkadienkults und der zeitgenossischen Stromung von Greek Revival im Anfang des 19. Jahrhunderts neu kombiniert. Aber auch diese Utopie erlaubt kein dauerhaftes Gluck, da Euporion aufwachst und aus der utopischen Hohle der Eltern ausbrechen und in die außere Wirklichkeit eintreten will. Nach dem Ende seiner Liebe zu Helena verwandelt sich der Charakter dieser Liebe in eine Liebe zur Menschheit, die Faust durch die Landgewinnung zu verwirklichen glaubt. Faust widmet sich wieder vollig seiner Liebe, und erst hier kann man von seinem Charakter als dem eines immer strebenden Menschen sprechen. Er zogert nicht mehr. Diese Charaktereigenschaft wird oft als das Faustische bezeichnet und als Wesenszug des modernen Subjekts identifiziert. Aber der andere Faust, der an seinem individuellen Leben scheitert, zeigt auch das Wesen des modernen Menschen, der immer mit sich kampfen muss. Erst die beiden "Seelen“ zusammen zeigen das wahre Gesicht der Menschheit, das Goethe zeichnen will.