Die Figur Mignon lasst sich als versteckter Kern der Lehrjahre auffassen, die Goethe selbst "eine der inkalkulabelsten Produktionen“ genannt hat. Gegenuber Madame Stael, die "Mignon bloß als Episode beurteilt“, außerte Goethe einmal, dass "doch das ganze Werk dieses Charakters wegen geschrieben sei“. Mignon ist ein "Ratsel“ dieses inkalkulabelsten Romans, zu dem in der Forschung viele verschiedene Losungen vorgeschlagen worden sind. Mignon wurde bisher ausgesprochen haufig sowohl auf symbolischer, als auch auf poetologischer Ebene gedeutet. Jedoch hat Mignon meines Erachtens nicht nur als Symbolfigur, sondern auch als realistische Figur eine eigene Aussagekraft und Brisanz. So ist die Darstellung Mignons im Roman auch auf der realistischen Ebene schlussig, besonders in Bezug auf ihre Traumata. Im vorliegenden Beitrag wird Mignon als eine lebendige Person der fiktiven Realitat betrachtet. Dabei werden die innere Logik ihrer Psyche, die Entwicklung ihrer Liebe, ihres sinnlichen Begehrens sowie ihrer Krankheit beachtet. Auch die Frage, was Mignon zum Tode fuhrt, bildet ein zentrales Problem dieser Arbeit. Mignon wird im Roman als "Ratsel“, "wunderlich“, "geheimnisvoll“ und "sonderbar“ bezeichnet, sodass sie dem Leser einen geheimnisvollen Eindruck vermittelt. Ihre ratselhaften Worte und Handlungen sowie ihr eigentumlicher Charakter enthullen sich anhand der modernen Traumatheorie. Mignons mangelhafte Sprachkompetenz, ihre Verschwiegenheit und ihre Vermeidung der Buhne lassen sich auf ihre Traumata aufgrund der Entfuhrung und der Misshandlungen zuruckfuhren. Ihre wiederholten Herzanfalle sind psycho- somatisch bedingt, d. h. exzessive psychische Belastung manifestiert sich als ein korperliches Symptom. Die intensive Befragung durch Natalie, die eigentlich zur Therapie dienen sollte, belastet das Kind eher sowohl emotional als auch korperlich und verschlechtert schließlich seinen Krankheitszustand. Wie Mignons Geschichte von Natailie und dem Medikus der Turmgesellschaft rekonstruiert und narrativ reprasentiert wird, zeigt die Unerzahlbarkeit des Traumas. Mignon uberwindet nicht ihre Traumata wie der Harfner, Sperata oder Aurelie. Ihre todlichen Traumata stehen in einem Spannungsverhaltnis zu dem langwierigen Heilungsprozess des Protagonisten, Wilhelm.