≫Weinende Manner sind gut≪, so hat Goethe in einem Gedicht im West-ostlichen Divan gesungen. Aber warum hat er das Weinen mit dem sittlichen Wert ≫gut≪ verbunden? Einen Hinweis darauf konnen wir am Ende desselben Gedichts finden: ≫Laßt mich weinen! Tranen beleben den Staub. Schon grunelt’s.≪ Die Kraft zum Wachsen und Erneuern bieten also die Tranen. Die Tranen, die Oranien fur Egmont fließen laßt, der gerade den Weg des Todes betreten wird, oder die Tranen, die von Wilhelm fur die starr gewordene Mignon vergossen werden, sind dargestellt als die Versuche, die Sterbenden zu retten.
Aber dieses Motiv laßt ebenso an Lessings Sympathielehre erinnern, die er zusammenfassend so formuliert hat: ≫Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.≪ Die weinenden Manner bei Goethe zeigen namlich auch einen Paradigmenwechsel vom Gefuhl, indem jener ≫die bislang ublichen Gesetze des decorum im Zeichen der eben entwickelten Kunsttheorie des Gefuhls≪(Schings 1980, 65) sprengt.