Goethes zweiter Roman Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1777-1785) ist ein Fragment, das nur als die Hälfte des geplanten Romans gilt und die Erscheinung der vorhandenen sechs Bucher (1911) sogleich zu einer lebhaften Debatte fuhrte. Da das unvollendete Werk mit einer Szene endet, in der sich der Protagonist Wilhelm bereiterklärt, Mitglied der Schauspieltruppe von Serlo zu werden, drehte sich die Diskussion um die Theaterfrage, ob Goethe in diesem geplanten Roman (anders als in den Lehrjahren) Wilhelm Meisters Weg zum Theater darstellen wolle und ob man daher Wilhelms theatralische Sendung nicht ironisch sondern ernst verstehen könne. Aber diese Fragen mussten stets nicht nachweisbare Hypothesen und Spekulationen bleiben, weil keine Hinweise vorhanden waren, wie Goethe das Ende des Romans geplant hatte. Theatralische Sendung wird als uberwundene Vorstufe der Lehrjahre bewertet, und es wird uberwiegend uber die Bildungsidee in den Lehrjahren diskutiert.
Wilhelm Meisters theatralische Sendung ist dennoch im Kontext der Literatur um 1780 zu lesen, indem man so viel wie möglich von der Umformung in den Lehrjahren absieht. Wilhelm Meisters theatralische Sendung ist ein Roman, der in Goethes erste Weimarzeit gehört, in der er in einen Konflikt zwischen seiner öffentlichen Tätigkeit und seiner kunstlerischen Begabung geraten war. Laut Text ist Wilhelm in der Theatralischen Sendung zwar ein Dilettant, aber ein wirklich schöpferischer Kunstler, der anders als Wilhelm in den Lehrjahren nicht eine Desillusion zum Theater erlebt, sondern ein Recht auf Selbstverwirklichung seiner theatralischen Begabung gegenuber der starren Gesellschaftsordung anstebt. Die Ein- und Unterordung Wilhelms innerhalb der adeligen Gesellschaft am Ende der Lehrjahre passt nicht zu dem Protagonisten der Theatralischen Sendung. In der Theatralischen Sendung ist noch ein jungerer Wilhelm zu sehen, der sich als einen Typus des selbstreflexiven, ‘modernen’ Individuums präsentiert. Daher ist dieser “Theaterroman” nicht nur als ein Kunstlerroman mit den vielfältigen Episoden und Personen, die in den Lehrjahren nicht aufteten, sondern auch als ein zweiter Roman des ‘jungeren’ Goethe zu lesen. Abgesehen von seiner “Bildungsidee” kann man diesen unvollendeten Roman sicherlich als einen “eigenständigen und in sich geschlossenen Roman” betrachten.