Goethe sollte das ökonomische Bild des Homo Oeconomicus inhaltlich schon vor John Stuart Mill gut kennen, obgleich er den Terminus nicht benutzt hätte. Der Homo Oeconomicus als Individuum ist mit dem problematischen Individuum in einem Roman zu vergleichen, wobei das problematische Individuum als Homo oeconomicus in den Romanen Wilhelm Meister nicht in einer, sondern mehreren Hauptfiguren in verschiedenen Formen zu beobachten ist. Die Hauputfiguren in Wilhelm Meister präsentieren in diesem Sinne verschiedene Homines Oeconomici. Diese sind in Wilhelm Meisters Lehrjahren Wilhelm, Werner, Lothario sowie in den Wanderjahren Oheim, Odoardo, Lenardo.
Die Analyse der Homines Oeconomici in den Romanen fuhrt uns zu der begrundeten Vermutung, dass Goethe an wichtigen wirtschaftlichen Ideen und ökonomischen Theorien seiner Zeit großes Interesse gehabt hat bzw. sie auf eine reflektierte Art und Weise gut zur Kenntnis genommen hat. Daruber hinaus können wir vermuten, dass er nicht bloß die Haupttrends ökonomischer Ansichten und Theorien seiner Zeit ubernommen, sondern sie gemäß den wirtschaftlichen Realitäten seiner Zeit zu modifizieren und praktisch weiterzuentwickeln versucht hat.
Als wichtige Beispiele dafur sind zuerst einmal die physiokratischen Ansichten und Adam Smiths ökonomische Theorie zu erwähnen. Lenardo als zentraler Homo Oeconomicus in den Wanderjahren betont zum Beispiel weniger das Eigentum und die Produktivität des Bodens, wie es in der französischen Physiokratie der Fall war, sondern hebt v.a. die Produktivität der Arbeit sowie die Wirtschaftstätigkeit des Individuums hervor. Die Autonomie und Effektivität des Marktes, so wie es Adam Smith analysiert, werden mehrfach betont, und zwar wird besonders auf die starke Dynamik des Marktes und die aktive Tätigkeit des Wirtschaftsakteurs im Markt eingegangen.
Goethe entwickelte in dieser Hinsicht eine praktische und praktizierbare Wirtschaftsperspektive und -politik. So behauptet er in den Wanderjahren, dass staatliche Wirtschaftspolitik notwendig und wichtig sei. Er spielt dabei darauf an, dass eine adäquate makroökonomische Wirtschaftspolitik die unabdingbare Voraussetzung und Grundlage zur Erreichung der Markteffektivität sei. Seine Darstellungen weisen durchaus Ähnlichkeiten mit einer wirtschaftspolitischen Ausrichtung auf, wie sie uns der Krisenökonom John Maynard Keynes in seiner “General Theory” präsentierte und wie sie heute noch in der Mainstream-Ökonomik zu finden sind.
Zu idealen Staatsideen, die fur eine funktionsfähige Mikro- und Makrowirtschaft eine Grundlage bieten, können wir auch in den Wanderjahren anregende Vorstellungen entdecken. Dies sind vor allem liberale Konzepte der Gesellschaft, wie sie in den Schriften von Ludwig von Mises und Friedrich A. Hayek zu finden sind. Anzutreffen ist dies insbesondere in den Reden des Fuhrers der Auswanderergruppe Lenardo - “garniert” mit feinen ironischen Schattierungen. Es lohnt sich auch, Lenardos Vorstellungen von der Staatsgrundung in der neuen Welt mit dem konstitutionellen Liberalismus Hayeks vergleichend zu analysieren.