Sowohl in ihrer Lyrik als auch in ihrer Prosa lotet Ulrike Draesner (*1960) auf vielfaltige Weise das Spannungsfeld zwischen Literatur und Wissen aus. In ihrem Roman Mitgift (2002) problematisiert die Autorin vor der Folie der sex/gender-Debatte den Umgang mit dem hermaphroditischen bzw. intersexuellen Korper. In Anlehnung an Judith Butlers Thesen sucht Draesner nach literarischen Darstellungsmoglichkeiten, mit denen nicht nur ‘gender’, sondern auch ‘sex’, also das biologische Geschlecht, als ein soziokulturelles Konstrukt aufgedeckt werden kann. Hierfur greift die Autorin nicht nur auf aktuelle Korpertheorien zuruck, sondern verknupft im Text unterschiedliche Wissensfelder miteinander, um das Nicht-Wissen innerhalb des Wissens zu bezeichnen. Im Gegensatz zu Jeffrey Eugenides’ Roman Middlesex (2002) oder den von Michel Foucault herausgegebenen Tagebuchaufzeichnungen von Herculine Barbin (1978), einem Hermaphroditen aus dem 19. Jahrhundert, wird Mitgift nicht aus der Perspektive der Intersexuellen Anita erzahlt, sondern aus der nachtraglichen Perspektivierung durch deren Schwester Aloe. Auf diese Weise werden die subjektiven Wahrnehmungsprozesse sowie die juristisch-medizinischen und sozialen Bestimmungen, die den Hermaphroditen als ein Nicht-Subjekt erst hervorbringen, offengelegt. Anita, die als Kind zahlreichen operativen Eingriffen und Hormonbehandlungen unterworfen und so zum weiblichen Geschlecht zugehorig gemacht wurde, entschließt sich eines Tages, fortan das in ihr angelegte mannliche Potenzial zu leben. Diese Uberschreitung der binaren Geschlechterordnung ist fur ihren Mann eine so unertragliche Vorstellung, dass er sie und sich erschießt. Zuruck bleibt ihr Sohn, den Aloe adoptiert. Mitgift greift somit auf das Genre des Familienromans bzw. des Generationenromans zuruck, das sie jedoch durch den Verzicht auf geschlechtliche Eindeutigkeit zugleich auf die Probe stellt.